Rezensionen

Wer in seiner Schulzeit zum Teil noch ellenlange Gedichte wie die Schiller’sche „Glocke“ auswendig lernen „durfte“, wird irgendwann auch einmal in Kontakt mit den „Kurzversionen“ solcher Klassiker gekommen sein. Die berühmteste davon dürfte die Geschichte vom „Taucher“ sein, kurz und bündig zusammengefasst in den wenigen Worten „Gluck, gluck, weg war er!“ Oder eben das „Lied von der Glocke“, das meist in etwa so lautet: „Loch gebuddelt, Eisen rein, Glocke fertig, oh, wie fein!“ Das ist respektlos, zeigt keine Achtung vor der literarischen Leistung unserer großen Meister und verkürzt höchst unzulässig die tiefen Hintergründe der Originale, aber, und das ist nicht zu leugnen, es ist prägnant, eingängig und bringt die Haupthandlung auf den Punkt.
Die Technik dieser Zusammenfassungen nimmt Michael Hüttenberger in seinem Heft „Komm mit, sagte der Esel“ als Vorlage zu dreizehn „Märchenverdichtungen“ nach Originalen der Gebrüder Grimm und hängt noch einen aus zahlreichen Motiven komponierten Verschnitt an. Stets muss sich die ganze Geschichte mit elf Zweizeilern begnügen, was nur unter massivem „Eindampfen“ möglich ist, aber hier in verblüffender Weise gelingt.
Der Autor beschreibt in seinem – ebenfalls gereimten – Vorwort, dass ihm ein entsprechender Versuch nur bei den Grimms gelang, er bei Andersen und Hauff etwa an der philosophisch überwucherten Geschichte scheiterte. Die drastisch-plastische Handlung der Grimm’schen Märchen aber kommt seiner Technik entgegen, eine meist recht lineare Entwicklung muss zwar stark kondensiert werden, aber die Linie bleibt erkennbar.
Und man staunt oft genug: Mehrmals lassen die 22 Zeilen sogar noch Luft für kleine bissige Kommentare („Alles gut!? Jetzt fehlt halt nur / Bremen die Musikkultur“) oder die Grimmtypische Schlussfloskel („Märchen aus, dort läuft ne Maus / wer sie fängt macht Pelzkapp draus.“)
Diese Kurzmärchen sollen nun natürlich kein Ersatz für die Originale sein und sind es auch nicht. Wer die echten Märchen nicht kennt, versteht die Verdichtung sicher auch nicht. Aber für wen sollte das gelten? Wer kennt den „Froschkönig“, „Aschenputtel“ oder „Rotkäppchen“ nicht? Und selbst, wer nur noch dunkle Erinnerungen aus seiner Kinderzeit mit sich trägt, wird sich der genial komprimierten Wirkung dieser Kleinodien nicht entziehen können. „Verdichtungen“ kennt man vom Dieselmotor, der durch diese Technik zum „Selbstzünder“ wird.
Und auch diese Märchenverdichtungen zünden von ganz alleine. Man sollte sich aber nicht täuschen: Eine Lektüre für Kinder im Kindergartenalter ist das nicht. Weder die extreme Verkürzung funktioniert ohne die Fähigkeit zur Abstraktion und zu einem Textverständnis über die Linearität hinaus, noch sind die vorliegenden Versionen immer ganz „jugendfrei“. Das bleibt alles harmlos und nur witzig, aber man sollte es wissen. Etwas Revoluzzer-aufmüpfig stellt sich nur die eigene Komposition am Ende vor, eine Art „Mutter aller Märchen“, in dem sich zahlreiche Figuren aus dem Genre zu einer sozial kritischen Neudichtung versammeln.
Michael Hüttenberger ist hier eine Sammlung witziger und verblüffender Miniaturen gelungen, die (…) höchstens noch eine etwas aufwändigere und wertigere Präsentation als in einem Pappheftchen verdient hätten.
Aber das gelingt vielleicht nach dem Erfolg dieser Ausgabe, den sie ganz sicher verdient.

Rezension „Komm mit, sagte der Esel“ (1. Auflage 2007)
von Bernhard Hubner, Julim-Journal 15.10.2007